Text: Günther Oberhollenzer

Die Zeichnung ist die Seele der Kunst

"DIE ZEICHNUNG IST DIE SEELE DER KUNST" William Etty, englischer Maler der Romantik

Günther Oberhollenzer zur Ausstellung: Jakob Kirchmayr - it’s so human

30.10. – 26.11.2015 LOFT 8, Brotfabrik Wien

 

Die drei überlebensgroßen Frauen stehen dicht am Bildrand. Die Gesichter sind fahl und eingefallen, die Augen gesenkt, die Münder geschlossen. Und doch sind diese Frauen keineswegs stumm. Anklagend halten sie tote Kinder wie eine Opfergabe in ihren Händen. „Seht her, der Irrsinn des Krieges“, scheinen sie uns zuflüstern zu wollen. Trotz ihres Schmerzes wirken die Trauernden in sich ruhend, ganz bei sich, in ihrer Zeit und Welt – und sind uns doch sehr nah, berühren uns in ihrer Zerbrechlichkeit und ihrem Anmut. Im Hintergrund erkennen wir schemenhaft zerbombte Häuser und Betonruinen, einer Gitterwand gleich ragen sie in den Himmel. Aus dem Gefängnis aus Gewalt und Gegengewalt gibt es kein Entkommen. Der Name des Bildes, „Sunset in Kobane“, zieht sich in großen Lettern über die drei Papierbögen. Dadurch wird das Bild in unserer Gegenwart verortet: der Krieg in Syrien, Flucht und Vertreibung, Tod. Und doch scheint die Darstellung der trauernden Frauen mehr zu sein als nur ein tagespolitischer Kommentar. Liegt ihr nicht eine grundsätzliche Wahrhaftigkeit zugrunde? In ihrer ungeheuren Unmittelbarkeit, mit der sie die schrecklichen, immer gleichen Folgen des Krieges darstellt, egal ob in Syrien oder Afghanistan, egal ob heute oder vor fünfzig Jahren?

Jakob Kirchmayr hatte solche Gedanken im Sinn, als er „Sunset in Kobane“ zeichnete. „Das Kunstsein ist mir passiert“, sagt der in Wien lebende Künstler, er möchte in den Zeichnungen seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, Ereignisse, die ihn berühren, zum Bild werden lassen. Dabei ist er in seinen Beobachtungen gnadenlos, tiefgründig und entlarvend.

Was kann die Zeichnung heute bedeuten? Ist sie noch zeitgemäß? Eine in unserer multimedialen Gegenwart gerne aufgeworfene Frage. Kirchmayr kümmern solche Diskussionen nicht, selbstbewusst hält er an seinem Medium fest. Wie recht er hat, gehört die Zeichnung doch zu den unmittelbarsten Ausdrucksformen künstlerischer Vorstellungskraft und Kreativität. Es wird sie immer geben, sie braucht sich auch nicht ständig neu zu erfinden oder irgendwelchen Moden anzupassen. Ein Zeichenstift. Ein Blatt Papier. Das genügt. Und eine ganze Welt kann entstehen.

Zurückhaltend und ruhig, in fahlen Grau-Blautönen gezeichnet, tanzt „Sunset in Kobane“ in Kirchmayrs Schaffen etwas aus der Reihe. Das Triptychon ist dem Anlass entsprechend zurückhaltender, ernster als viele seiner anderen Arbeiten. Kirchmayr mischt Zeichnung mit fein lasierter Malerei, sein zeichnerischer Stil ist wild und impulsiv, ein kritzelnder, lebendiger Strich von roher Expressivität. Die Blätter zeigen uns das Wesen des Menschen, fratzenhaft und abgründig, triebhaft und unberechenbar, gewaltbereit und grausam. Sie zeigen uns aber auch ein in die Welt geworfenes Individuum, verloren und einsam, eine leidende Existenz, die an der Realität und an den Menschen zugrunde zu gehen scheint.

Eine grobschlächtige blaue Gestalt, durch ihr grünes Kleid und den Orden (die aus Farbtuben bestehen) als Miltärangehöriger identifizierbar, hält zwei versehrte Geschöpfe in den Händen. „Zärtlichen Umarmung“, so der sarkastische Titel des Bildes. Über der Szenerie sind Auszüge eines Berichts von Amnesty International zu lesen, die die erschreckende Vermarktung von chinesischen Folterinstrumenten im asiatischen und afrikanischen Raum schildern. Das janusartige Doppelgesicht des Folterers lässt viel Interpretationsspielraum offen: Zeigt es die Maske, die dieser aufsetzt, wenn er von der „Arbeit“ nach Hause kommt, um seine Kinder in den Arm zu nehmen, oder steht es doch für sein tiefstes Inneres, das über das grausame Handeln entsetzt ist? So erzählerisch die Arbeiten auf den ersten Blick auch sein mögen, es bedarf Zeit und Muse, um diese künstlerische Welt zu ergründen.

 

Kirchmayr ist in seiner Bildsprache nie plakativ oder eindeutig, vieles bleibt in der Schwebe, er lässt figurative Elemente fließend in abstrakte übergehen, spielt mit Bedeutungsebenen. Seine knorrigen, skelettartigen Menschen sind skurril und unheimlich, manche Szenen kippen ins Groteske. Die Zeichnungen erscheinen wie ein böser Kommentar auf unsere Wirklichkeit, ein innerer Monolog, der nach außen getragen wird und doch als Betrachter nur bedingt verstanden werden kann und soll. Sie sind aber wohl auch Rüstzeug, Therapie und Rebellion, um mit der Welt, den Menschen und seinen Grausamkeiten zurechtzukommen.

Ein Mann trägt einen zweiten auf seinem Schoß: „Ich komm dich mal besuchen“ erinnert an eine Pietàdarstellung und doch ist hier alles anders. Die stechend klaren Augen des Tragenden blicken in die Ferne, die Zange in der einen Hand verheißt nichts Gutes. Die viel zu großen Hände des Liegenden verleihen dem Bild eine enorme Körperlichkeit. Vielleicht schwebt diese zweite Figur aber auch, oder sie wird durch das Bild geschleudert, da sie geschlagen wurde. Mit Ausnahme der Hände ist sie nur leicht skizziert und besteht aus einem dichten Gewirr malerischer Schichten, das erkennen lässt, dass es lange gedauert hat, bis die passende Form gefunden wurde. Vieles ist darunter verborgen und nicht mehr zu sehen. Gerade in seiner rohen Unvollkommenheit zeigt das Bild eindrucksvoll, wie geschickt der Künstler sein Können einzusetzen vermag. Er wählt bewusst die Reduktion, setzt nur wenig ausformulierte Akzente, lässt vieles im Ungewissen. Auch die Texte in diesem Bild verwirren mehr, als dass sie etwas klären – zum Teil kann man sie auch nicht (mehr) lesen, da sie unscharf und verwaschen sind oder auch übermalt wurden. Der Künstler weiß mehr, als er zu zeigen bereit ist. Der skizzenhafte Charakter lässt viel Freiraum für die Betrachtung und Interpretation.

 

Kirchmayr gelingt es, den malerischen Akt in seiner zeitlichen Dimension erfahrbar zu machen. Durch das Überlagern und Überlappen einzelner Malschichten und Zeichnungsschritte wird der Schaffungsprozess in seinem kreativen Ablauf sichtbar. Die Bilder leben von ihrer Dynamik, von einem spontanen Strich, mit viel Körpereinsatz umgesetzt. Man sieht geradezu, wie der Künstler seine Ideen entwickelt, wie er sich auf der Papieroberfläche abkämpft, die Szenen langsam Gestalt annehmen. Kirchmayr verwendet die Acryl-Farbe wie Aquarell, er arbeitet in vielen Schichten und Lasuren, immer wieder sind auch Rinnspuren zu sehen. Sein Hauptwerkzeug sind aber Künstlerfarbstifte, Ölkreide und Tusche.

Seine Bilder haben „etwas Sezierendes“ schreibt Felicitas Amler in der „Süddeutschen“ über Kirchmayrs Zeichnungen zu Gedichten von Charles Bukowski, von denen auch einige in der Ausstellung zu sehen sein werden. Die anekdotischen Blätter sind kleiner, sie wirken fragiler und verletzlicher, auch persönlicher und humorvoller. Doch auch hier bleibt der eigenwillige zeichnerische Duktus unverkennbar.

 

Die Welt ist heute bunt und grell. Die Zeichnung hat es im aktuellen zeitgenössischen Kunstgeschehen oft nicht leicht. Vielleicht haben die Menschen auch das grafische Sehen verlernt, ein langsames, zeitaufwendiges sich Einsehen und Fühlen in Schwarz-Weiß, in einen reduzierten Farbklang. Kirchmayrs Bilder entstehen ohne Vorzeichnung, direkt auf dem Papier – ohne fotografische Vorlagen oder sonstige Hilfsmittel. Ein Weltentwurf jenseits unserer virtuellen Medienrealität. Ein zeichnerisches Werk, das in seiner selbstbewussten Lockerheit und Könnerschaft eine ungewöhnliche Kraft und Frische entfalten kann. Kirchmayr provoziert und irritiert, er biedert sich nicht an und fordert viel vom Betrachter. Doch dieser wird reich dafür belohnt.