Zauber des Ungewissen
„Gute Bilder erfassen mich emotional, lösen bestimmte Gefühle aus. Die Verwebung der Malerei mit einer sprachlichen Ebene verstärkt dies zusätzlich“, so Jakob Kirchmayr. Beim Betrachten seiner Arbeiten ist es mitunter das Gefühl, dass der Künstler mehr weiß und gewissermaßen Spuren legt. Derzeit realisiert er diese im neuen Bildraum Studio in der Wiener Ankerbrotfabrik.
„Ich stand in einem Raum, der alle Augenblicke enthielt“ lautet der Titel einer der neuesten Arbeiten Jakob Kirchmayrs. Er arbeitet gerne mit großen Formaten, denn ein großes Bild „umfasst das gesamte Sichtfeld”, erklärt Kirchmayr, „ähnlich wie Musik, bei der man von einer Klangwolke umhüllt wird.“ Von seinen Arbeiten scheint tatsächlich ein bestimmter „Klang“ in immer neuen Variationen auszugehen – z.B. in Form von Textzeilen, die er in seine Bilder integriert. So steht da etwa „Der Wolf ist da, Freund aller Stunden und er berührt das Fenster mit seiner Zunge“ oder „Ein feuriger Engel stürzt mit zerbrochener Brust auf steinigen Acker“. Dichter wie Tomas Tranströmer, Wisława Szymborska oder Jannis Ritsos hatten es ihm in letzter Zeit besonders angetan: „Ihre Lyrik ergreift mich so unmittelbar.“ Wenn das der Fall ist, streicht sich Kirchmayr solche Passagen an und lässt sie „wenn es sich zusammenfügt“ in die Arbeit einfließen.
Mitte letzten Jahres entfernte sich der 1975 in Innsbruck, geborene Künstler mehr und mehr von seinem bis dahin figurativen Fokus. Seitdem widmet er sich intensiv Landschaftsdarstellungen und offenen Bildräumen, imaginiert aus persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen. Etwa zeitgleich erhielt Kirchmayr das Angebot, als erster Gastkünstler das 2018 eröffnete Bildraum Studio am Areal der Brotfabrik Wien zu beziehen. Mit dem Atelier bietet die Urheberrechtsgesellschaft Bildrecht auf 170 m2 Arbeitsfläche und mit einer vorgelagerten Kunstterrasse Kunstschaffenden die Möglichkeit, großformatige Arbeiten sowie raumgreifende Projekte umzusetzen und zu präsentieren. In Zukunft wird das Atelier nach Entscheidung einer Fachjury einem/einer freischaffenden KünstlerIn für eine bestimmte Zeitdauer zur Verfügung gestellt.
Jakob Kirchmayr beginnt seine Bilder häufig ohne konkrete Idee. Diese kommt ihm erst durch den Arbeitsprozess, und dann führt eine Idee zur nächsten. Expressive, skizzenhaft-spontan wirkende Zeichnungs- und Malereischichten überlagern sich bei Kirchmayr reliefartig – teils pastos, teils in Lasuren – auf Baumwolltüchern bzw. überdimensionalen, wie handgeschöpft wirkenden Papierbögen und verleihen seinen oft mystisch anmutenden Bilderwelten dadurch skulpturalen Charakter. So entstehen karge Bergstrukturen mit an Eiskrusten erinnernden weißen, manchmal blauen Flächen, sowie weit geöffnete Raumdarstellungen, deren Fluchtlinien aus dem Bildträger regelrecht hinauswachsen – Landschaften, die dem Künstler als symbolische Räume dienen und Räume, die vielleicht als Seelenlandschaften zu deuten sind. Dass man nie genau sagen kann, worin in Wahrheit die Faszination besteht und woher sie eigentlich stammt, macht wohl auch den Reiz dieser ungewöhnlichen Arbeiten aus.