Text: Klaus-Jürgen Bauer

Ein Anblick der Staunen macht

Das Fastentuch des Tiroler Künstlers Jakob Kirchmayr in der Wiener Michaelerkirche. Es ist ein Anblick, der Staunen macht.

Friedrich Achleitner, der verstorbene Doyen der österreichischen Architekturtheorie beschrieb diesen Moment des Staunens einmal so:

„So kommt es kaum vor, dass plötzlich Stille eintritt, dass Staunen und Einverständnis herrscht und dass langsam eine Diskussion eintritt, worin das Besondere dieser Räumlichkeit steckt. Ein scheinbar klar deklarierter Raum, der aber doch seine Geheimnisse hat.„

Beeinflusst von der zunehmenden globalen Zerstörung der Natur, entschied sich der Künstler anstelle von Farbe für Wasser und Feuer als wesentliche Materialien.

Sein Fastentuch besteht aus etwa 20 verbrannten, geräucherten, mit Asche, Erde und Kohle abgeriebenen und dem Regen ausgesetzten Baumwolltüchern - Erde, Asche, Rauch und Kohle als färbende Medien. Eine Ahnung der Apokalypse, aber zugleich wunderschön und herzergreifend.

Fastentücher - auch Hungertuch, Palmtuch, Passionstuch oder Schmachtlappen genannt - verhüllen in der Fastenzeit die bildlichen Darstellungen Jesu. Sie erinnern an den jüdischen Tempelvorhang, der im Augenblick des Kreuzestodes Jesu zerriss.

Schon die christlichen Urkirchen des 4. Jahrhunderts in Syrien benutzten große Vorhänge für die Inszenierung der liturgischen Abläufe. Im Westen wird um das Jahr 1000 herum der Brauch des Fastentuchs erwähnt.

Bis ins 12. Jahrhundert waren Fastentücher einfärbig, danach wurden Kunstwerke daraus. Die Schwerpunkte der künstlerischen Entwicklung waren einerseits die Alpenregion - vornehmlich Kärnten und Tirol - andererseits Norddeutschland mit Westfalen und Niedersachsen.

Martin Luther lehnte diese Tradition der Sakralkunst als „Gaukelwerk“ ab, aber da kannte er halt das unfassbar wirkmächtige Fastentuch von Jakob Kirchmayr in der Michaelerkirche noch nicht. Klaus-Jürgen Bauer