Einführung zum Fastentuch von Jakob Kirchmayr für die Kirche St. Michael in Wien, Text: Dr. Klaus Speidel

Ein Bild unserer Zeit - von der Notwendigkeit des Verzichts

Jakob Kirchmayrs Fastentuch für die Michaelerkirche verhüllt ihren zentralen Ort, den Altar und markiert damit 40 Tage lang eine nicht-alltägliche Zeit. Indem er dabei keine anderen Bilder an die Stelle der verborgenen Altarfiguren treten lässt, knüpft der Künstler an die Ursprünge des Hungertuchs an. Ursprünglich stand beim Fastentuch nämlich der Aspekt der Verhüllung und des Verzichts – ein Fasten auch mit den Augen – im Vordergrund. Später – vielleicht war schon damals die visuelle Abstinenz den Menschen schwer erträglich – begann man die scheinbare Leere zu füllen. Berühmte Beispiele, wie das Gurker Fastentuch aus dem 15. Jahrhundert, sind viel bildreicher als die Altäre, die sie verbergen. Dass die Raster solcher Bildwerke mit ihren vielen Einzelszenen dabei unseren Profilen auf Instagram ähneln, mag ein visueller Zufall sein oder eine tiefe Verwandtschaft anzeigen.

In unserer Zeit, die Transparenz und Sichtbarkeit zu Dogmen erhoben hat, mag es manchen noch schwerer fallen, eine solche Verhüllung zu akzeptieren. Das Bild des Fastens, das hier vermittelt wird, ist mehr als das einer Diät mit religiösem Mehrwert, womöglich mit dem positiven Nebeneffekt, ein paar Pfunde abzuspecken. Dieses Fastentuch legt uns eine visuelle und damit mentale Askese nahe – denn wie schon Wolfgang von Goethe konstatiert, hat das Bild eine besondere Macht über den Geist oder – wie er es selbst formuliert – „ein magisches Recht. Weil es die Sinne gefesselt hält, Bleibt der Geist ein Knecht.“

Nehmen wir das abstrakte Fastentuch als Einladung zum visuellen und damit geistigen Fasten in der Gegenwart ernst, kommen weniger das gedankenlose Futtern von Snacks vor dem Fernseher in den Blick als „geistiges Junk Food“: Die Videos, die wir uns gedankenlos ansehen, die Kurznachrichten, die wir permanent konsumieren... .

Künstliche Intelligenz macht die Produktion und Verbreitung von verführerischen Bildern, Texten und Kommentaren ganz ohne menschliches Zutun möglich. Wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir dabei das Wertvollste, das wir haben: unsere geistige Freiheit. Schon jetzt verschwenden 5,4 Milliarden Menschen täglich kostbare Lebenszeit mit maschinell verbreitetem Müll – Stunden, in denen sie etwas Denkwürdiges tun könnten: Ihre eigenen Gedanken denken, Waldluft atmen, aus dem Fenster sehen, die Seele baumeln lassen, mit ihren Eltern oder Kindern reden oder sich für andere Menschen einsetzen, wie der Verein Tralalobe, der sich um Flüchtlinge in Österreich kümmert und Jakob Kirchmayr für die Realisierung des Fastentuches drei Helfer*innen zur Seite gestellt hat.

Als Fastentuch knüpft die Arbeit Jakob Kirchmayrs also zugleich an den Ursprung der Tradition an, und besitzt Relevanz für die Gegenwart. Auch als Kunstwerk ist sie dezidiert modern. Von Robert Rauschenberg, der 1953 eine Zeichnung von Willem de Kooning ausradiert hat, um das Werk als Erased de Kooning Drawing als sein Eigenes auszustellen, über Arnulf Rainers Übermalungen bis hin zu Banksy, der 2018 ein eigenes Werk bei einer Auktion durch den Schredder laufen ließ, haben Künstlerinnen und Künstler das Ausradieren, Verdecken und Übermalen als eigene Form etabliert und damit abgelehnt, den existierenden Bildern weitere hinzuzufügen.

Auch wenn Jakob Kirchmayr abstrakt arbeitet: Der Vergleich mit seinen anderen Werken macht deutlich, dass er hier nicht bloß einen existierenden Stil auf ein neues Thema anwendet. Er hat für die besondere Aufgabe ganz neue – reduzierte – Mittel gewählt. Er lebt damit den Verzicht vor, zu dem er uns mit dem Fastentuch einlädt: Keine Figuren, keine künstlichen Farben, keine Malerei, keine Handschrift – und dennoch eine Geschichte.

Denn es wäre falsch, zu glauben, dass das Werk nichts erzählt, nur weil es keine Menschen oder Landschaften darstellt: Als Spurerzählung ist es gezeichnet von den Elementen, dem Regen und der Asche und den Menschen, die daran gearbeitet haben. Wenn wir Betrachter und Betrachterinnen uns wie unsere Vorfahren an den Spuren orientieren, wird klar, dass die Art, in der dieses Fastentuch verbirgt, Dinge sichtbar werden lässt. Symbolisch ist es ein Bild unserer Zeit. Was ist das für eine Zeit? Das wird deutlich, wenn der Künstler selbst den Arbeitsprozess beschreibt: „Beeinflusst von düsteren Zukunftsprognosen, den Wirtschaftsstrategien der großen Konzerne, dem Klimawandel, der fortschreitenden globalen Zerstörung der Natur, sowie den grauenhaften kriegerischen Auseinandersetzungen unserer Zeit, wählte ich anstelle von Stiften und Farbe Wasser und Feuer als transformierende – Erde, Asche, Rauch und Kohle als färbende Medien.“

Die Form des Tuches spiegelt eine Zeit der Zerstörung und des Feuers wider. Es wurde aus vielen Stücken zusammengesetzt, zusammengenäht von Geflüchteten und einem österreichischen Künstler. Die Arbeit daran hat Erinnerungen an Leid und Zerstörung wieder wachwerden lassen, aber auch Freude über den gemeinsamen Neubeginn gemacht.

Entstanden ist dabei ein Bild des Verzichtes, das zur Achtsamkeit einlädt; ein Bild unserer zerstörten Welt, aber auch ein Bild des Wandels, des Wiederaufbaus und des Heilens; ein Bild der Hoffnung, der Resilienz, des Wachstums und der Solidarität – vielleicht auch das Bild einer Patchwork-Gesellschaft, die aus verschiedenen Teilen und Hintergründen besteht, aber dennoch zusammenhält und gemeinsame Werte und Ziele teilt. Zugleicht macht das Werk deutlich, wie löchrig und fragil diese Gesellschaft ist. Ohne die bewusste Anstrengung und Sorgfalt der Menschen, die 100 Stunden daran gearbeitet haben, wäre das Tuch nicht heil geworden. Und ohne Sorgfalt, drohen auch unsere Welt und Gesellschaften zu zerreißen. Sie zusammen zu halten, kann nur gelingen, wenn wir nicht zu sehr ablenken lassen, von unseren Selbstinszenierungen und den Nonstop News online und von Unternehmen, denen jemand für ein paar Cent den Zugang zu unserem Bewusstsein verkauft hat. Nur wenn wir endlich auf Unnötiges verzichten, um Raum zu machen für das Wesentliche und für die Anderen, kann die Welt lebenswert bleiben. Dafür darf das Fasten – im Sinne des geistigen und materiellen Verzichts – nicht auf die Fastenzeit beschränkt bleiben.

 

 

Dr. Klaus Speidel, Wien, Aschermittwoch 2024