Falten des Wassers
SICH DEM GESCHEHEN AUSSETZEN
Text: Dr. Klaus Speidel, Wien im September 2024
Die er-fahrenen Naturbilder in Jakob Kirchmayrs Ausstellung „Falten des Wassers“
Sie trinken die Quellen,
trinken die Flüsse und die Seen,
das Meer, die Wolken und den Regen.
Sie trinken den Horizont.
Ewig trinken seine Augen
und können ihren Durst nicht stillen.
Fuad Rifka, 5. Januar 2001
Realismen
Was zeichnet Realismus aus? Ist es die unmittelbare Wiedererkennbarkeit des Dargestellten? Ist also jedes aktuelle Handyvideo automatisch realistischer als ein Gemälde oder eine Zeichnung, in der die Hand und der Geist der Künstlerin oder des Künstlers sich zwischen Gegenstand und Bild schieben? Zwei Dinge sind wichtig, um das zu beantworten:
Realismus ist immer selektiv: Ein Bild – beispielsweise eine Schwarzweißfotografie – kann Formen hochrealistisch wiedergeben ohne realistische Farben.
Realismus ist immer graduell: So kann die Farbgebung mehr oder weniger realistisch sein. Und was eine Zeit für realistisch hielt, kann einer anderen wie eine grobe Annäherung erscheinen. Vor Claude Monet hätte man meinen können, ein gewissenhaft gemaltes Bild oder ein ordentliches Foto von der Kathedrale von Rouen sei ausreichend, um ihre Front realistisch darzustellen. Aber seit Monet ihr 1892-1894 dreißig Ansichten gewidmet hat – zu Mittag, am frühen Morgen, bei Sonnenuntergang... – hat sich gezeigt, dass eigentlich keine Ansicht ausreicht, um ein realistisches Bild der Wirkung der Kathedrale zu geben. Jedes seiner Bilder kann als realistisch gelten – von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen und zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Aber während diese Beispiele suggerieren, bei Realismus ginge es nur um Sichtbares, macht das visuell Wahrnehmbare – die Haut der Dinge – nur einen Teil unserer Welt aus und immerhin vier unserer fünf Sinne sind mit anderem befasst als dem Sehen, von den Objekten des sechsten Sinnes ganz zu schweigen: Wie verhält es sich mit Dingen wie Stimmungen, Gedanken, Gefühlen, Erlebnissen? Sind diese nicht ebenso Teil der Realität wie das Sichtbare und also mögliche Objekte realistischer Darstellung?
Ich möchte deshalb einen Vorschlag machen: In einem interessanteren Sinne „realistisch“ ist ein Kunstwerk, das sich an Realität auf besondere Weise und besonders intensive Weise annähert. Dass bei Jakob Kirchmayrs Bildern nicht unmittelbar erkennbar ist, was sie darstellen, heißt deshalb nicht, dass sie nicht realistisch sind. Sie sind realistisch insofern sie sich nämlich verschiedenen Realitäten annähern, insbesondere der Natur – oder genauer gesagt dem, das Lois Weinberger einmal treffend, das „geschehen“ genannt hat, „welches allgemein als Natur bezeichnet wird“.
Aus dieser Formulierung spricht ein Zweifel an den allzu einfachen Worten, der sich auf die allzu einfachen Bilder übertragen lässt. Es ist ein Zweifel, den die Populisten allerorten unterdrücken, wenn sie einfache Erklärungen der Welt fordern und liefern. Dazu ein Philosoph, den einige dieser Populisten offenbar zu unrecht vereinnahmen: Friedrich Nietzsche. Er schreibt:
"Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen". Friedrich Nietzsche
Die Kunst der Landschaft
Gibt es also keine Lösung? Sind wir dazu verdammt, immer an der Welt vorbeizureden, -denken und -zeichnen? Nein. Es gibt systematische Annäherungsversuche. Viele Gedichte und andere Kunstwerke sind nämlich nicht Hirngespinste und Träumereien, sondern oft Versuche, adäquate Bilder bestimmter Gegenstände, Erfahrungen oder Phänomene zu schaffen.
Da es aber so viele Realitäten um und in uns gibt, kann man auch heute noch die Kathedrale von Rouen oder einen Fluss malen und dabei etwas Neues sichtbar machen. Auch Jakob Kirchmayrs Malereien und Zeichnungen zeigen etwas Neues. Entstanden sind sie diesen Sommer im Atelier. Zugrunde liegen ihnen aber konkrete Er-Fahrungen bei Reisen zu Fuß oder – besonders ausgiebig und intensiv – mit dem Kajak. Das ist wichtig, weil ich glaube, dass es uns an das Besondere dieser Naturbilder heranführt und zeigt, wie sie sich von klassischen Landschaftsdarstellungen unterscheiden. Diese beschwört Alois Riegl 1899 in seinem Text „Die Stimmung als Inhalt der Modernen Kunst“. Das wesentliche Charakteristikum der auf Stimmung abhebenden modernen Kunst, schreibt Riegl, sei die fernsichtige Landschaftsmalerei. Diese verschafft dem Kunsthistoriker „ein unaussprechliches Gefühl der Beseligung, Beruhigung, Harmonie.“ Warum gerade die Fernsicht für den modernen Menschen so erleichternd ist, beschreibt Riegl ebenfalls:
"Was in der Nähe erbarmungsloser Kampf, erscheint ihm aus der Ferne friedliches Nebeneinander, Eintracht, Harmonie. So fühlt er sich erlöst und erleichtert von dem bangen Drucke, der von ihm keinen Tag seines gemeinen Lebens weicht". Alois Riegl
Deshalb stellen wir uns den modernen Landschaftsmaler vor wie Caspar David Friedrichs Wanderer: Er blickt von oben auf die Welt herab und malt sie aus sicherer Distanz. Die moderne Landschaftsmalerei, so heißt es oft, konnte sich erst entwickeln, als der Mensch sich nicht mehr als Teil einer Natur wahrnahm, von der er abhängig war, sondern sie als ein Gegenüber betrachten konnte. Genau das kann er aber nicht wenn er sie mit dem Kayak er-fährt oder zu Fuß durchwandert. Dann sind es genau die „das Grundgesetz trübenden Zufälligkeiten“, die es „überwuchern“ (A. Riegl), die wichtig sind. Eine Kunst, die nur die sichtbaren Oberflächen einfängt – und auf Distanz geht – ist eine, die die Welt simplifiziert, anstatt sich an ihrer Komplexität abzuarbeiten. Es ist eine Kunst, die die Welt zu einer Bühne macht, auf der der Mensch ungestraft agieren kann, wie er will anstatt uns die natürliche Welt nahezubringen, wie die Kunst Kirchmayrs. Der Weitblick mag auch im Kayak nötig sein, um die Stromschnelle kommen zu sehen, aber die Nahsicht ist lebensnotwendig, um das Boot nicht am Felsblock aufzureißen. Und bei wilden Flüssen ist das Geschehen, welches allgemein als Ufer bezeichnet wird, kein kultiviertes, sondern ein üppiges, eines, wo sich Pflanzen und Zeiten, grün Sprießendes und braun Verdorrtes, Gegenwärtiges und Vergangenes, überlagern, ein dorniges, brennendes, scharfkantiges, gebrochenes, lebendiges Wuchern. Es ist vom Wind gepeitschtes, stacheliges Geäst. Es sind Silberweiden, die schon mehrfach vom Hochwasser verwüstet wurden und neue Triebe und Wurzeln haben. Es ist eine archaische, wilde Landschaft – und eine, die Hoffnung auf Regeneration dessen macht, was der Mensch zerstört hat. In dieser Weise knüpfen die aktuellen Zeichnungen auch an die Botschaft des Fastentuches an, das Kirchmayr 2024 für die Michaelerkirche entworfen hat.
Sich dem Geschehen aussetzen
Jakob Kirchmayr widmet sich nicht (nur) der Landschaft, sondern auch dem Geäst. Was wir in seiner Ausstellung „Falten des Wassers“ sehen, sind Arbeiten eines Künstlers, der sich der Natur aussetzt, anstatt sie nur zu betrachten.
Dieses Ausgesetztsein ruft er in seiner Erinnerung wach, wenn er malt und zeichnet. Dabei ist Natur nicht nur Objekt der Betrachtung, sondern auch Barriere. Kirchmayrs Bilder machen deutlich, dass immer noch etwas dahinter liegt, anstatt die Welt gemäß der Kulturtechnik der Verflachung aus der Ferne zu kartographieren, um sie zu dominieren. So reflektiert der Aufbau seiner Bilder in Schichten von Farbe und einander überlagernden Strichen Gestrüpp und Dickicht und damit eine erlebte Natur.
Auch die Energie seiner Erfahrung schreibt sich in die Werke ein. Kirchmayr lehnt Vorzeichnungen ab, weil er die Unmittelbarkeit des ersten Entwurfs erhalten will:
Ich will die Spontaneität auf der eigentlichen Arbeit haben. Es gibt ja keine Skizzen von mir, aber mit den „Reisenotizen“ gibt es jetzt eine besonders skizzenhafte Arbeit. Jakob Kirchmayr
So dürfen wir in unseren wohltemperierten Räumen an einer er-lebten Natur teilhaben, die eben auch der Wanderer Nietzsche kannte, der schrieb „nur die ergangenen Gedanken haben Wert“.
Mitstreiter und Mitstreiterinnen für seinen Versuch, das „Geschehen“ zu erhalten und für uns nachvollziehbar zu machen, findet er bei Dichter*innen, die Worte für ihre Erfahrung suchen. Viele dieser Zitate sind den Bildern eingeschrieben und bereichern sie um eine weitere Stimme und Bedeutungsdimension. Besonders prägnant war dabei in den letzten Monaten die Lektüre des syrisch-libanesischen Autors Fuad Rifka, so dass die Stimmungen, die seine Texte erzeugen, auch in die Arbeiten eingeflossen sind. Besonders deutlich wird das bei dem großen Gemälde Zeit, in dem er Rifas zitiert:
...die Saat hat ihre Zeit
und der Donner die seine;
der Wind hat seine Zeit,
und auch die Ernte
hat ihre Zeit…
Fuad Rifka
Diese Sätze verorten die Darstellung im Kontext existenzieller Überlegungen. Das Gemälde selbst vermittelt ein Gefühl der Weite, lässt aber offen, ob es die See, eine Flußmündung oder womöglich einen See zeigt. Hierzu passt auch Jannis Ritsos, der beim Versuch, seine Erfahrung zu vermitteln, das Wort „Falten des Wassers“ gefunden hat. Als Titel der Ausstellung in der Galerie Hilger beschreibt das Zitat einerseits die durchfahrenen und durchlebten Wellen, andererseits auch die Falten, welche beim Schöpfen des Papieres entstehen oder wenn dieses Papier im Atelier wieder naß und kurzzeitig fragil wird. All das schreibt sich spurhaft in die Malereien und Zeichnungen ein. So werden wir auch als Spurenleserinnen und Spurenleser aktiviert, wenn wir die Mal- und Rinnspuren der wässrigen Lasuren nachvollziehen und dabei das Wissen unserer spurenlesenden Urahninnen und Urahnen wieder wachrufen.
Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass die Bilder nicht nur eine persönliche Erfahrung vermitteln, sondern zu nahezu universellen Darstellungen einer bestimmten Naturerfahrung werden. Unmöglich wäre es aber auch ohne die Unschärfe der Darstellungen.
Die Macht der Unschärfe
„Das ist unscharf, das kannst Du löschen“, sagen wir – und verdammen damit unscharfe Bilder zum Verschwinden. Der richtige Grad an Unschärfe kann aber auch eine Qualität sein, denn ein unscharfes Bild einer Person stellt nicht nur diese eine Person dar und ermöglicht verschiedene Interpretationen. Wie Begriffe, erfassen die Bilder so mehr Realität als jede Fotografie, denn
…so gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen [der] individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet... Friedrich Nietzsche
Ähnlich entindividualisiert können so Bilder der Natur wie die Kirchmayrs mit ganz verschiedenen Erfahrungen korrespondieren und verschiedene Erfahrungen ermöglichen. Beliebig sind sie trotzdem nicht – und das Gemälde Zeit scheint eine große Fluß- oder Seenlandschaft zu zeigen. Als eine der wenigen Arbeiten in der Ausstellung auf Fernsicht angelegt, bildet es zurecht den Blickhorizont. Mich hat es unmittelbar an einen anderen geistigen Begleiter Kirchmayrs erinnert, der den Anteil der Realität erfassen wollte, der nicht bloß sichtbar ist, nämlich den italienischen Dichter Giuseppe Ungaretti. So möchte ich mit einem Gedicht schließen, das ursprünglich Cielo e Mare betitelt war und jetzt Mattina heißt:
„M’illumino
d’immenso“
In der Übersetzung von Ingeborg Bachman:
„Ich erleuchte mich
durch Unermeßliches“
Dr. Klaus Speidel, Wien im September 2024