Irgendwo hier muss ich gelebt haben
„Die Landschaften die wir durchstreift haben, tragen wir immer mit uns“ - so beginnen die „Aufzeichnungen aus den Regionen des Lapplandkollers“ von Tomas Tranströmer.
Als ich diese Textzeile las, war ich zurückversetzt in meine Kindheit, Erinnerungen an Pfade, die ich gemeinsam mit meinen beiden Brüdern erkundete wurden wach, ebenso an Streifzüge durch nächtliche Wälder. Ich war wieder auf der Jagd in den Tiroler Bergen, gemeinsam mit meinem Vater, unterwegs auf irischen Wegen, gesäumt von Steinmauern, Speerfischen im spiegelglatten Meer rund um Venetiko (eine kleine griechische Insel am südlichen Peloponnes). Ich hatte die Musik von Fabrizio de André im Ohr und den Geschmack des Meeres im Mund. Ich wurde vom Chor der Zikaden geweckt, öffnete den Reißverschluss unseres einsamen Zeltes und blickte hinaus aufs Meer. Ich stand am Hades, tauche meinen Kopf in das eiskalte Quellwasser um einen Blick in die griechische Unterwelt zu erhaschen. Und leise hörte ich die mächtige Brandung des Meeres, das sich vor mir an den Cliffs of Moher brach.
Es war eine archaische Welt, in der ich aufwuchs, geprägt von der unbändigen Abenteuerlust meiner Eltern.
„Die Landschaften die wir durchstreift haben, tragen wir immer mit uns“ ist eine Ode an meine Kindertage, entstanden in einer Serie großformatiger Arbeiten, in denen ich Malerei und Zeichnung auf gefalteter und geknitterter Leinwand mit Fundstücken aus Metall zu raumgreifenden Installationen kombiniere. Durch das Zusammenwirken von Malerei und den davor abgelegten oder gehängten Metallobjekten entsteht ein Erinnerungsraum, der geprägt ist von flüchtigen Augenblicken und den damit verbundenen Gefühlen aus meiner Kindheit.
Dabei erzählt meine Installation eine universelle Geschichte. Es ist eine Geschichte der stetigen Veränderung, aber auch des Verschwindens, des Verlustes und der damit verbundenen Sehnsucht, die durch unsere Erinnerung geweckt wird. Rostige Versatzstücke, Gefäße, Ketten und Drahtseile, achtlos zurückgelassen in Wäldern, Wiesen und Ufern, sind Spuren der Vergänglichkeit menschlichen Wirkens. Diese werden durch die Natur transformiert und gewinnen durch das Herauslösen aus der Vergessenheit eine neue Bedeutung.
Meine Arbeit spricht von einer Zeit vor den großen Umweltsünden und bevor der Massentourismus seine zerstörerische Wucht entfalten konnte.
Die griechischen Gewässer waren einst fischreich, die zerklüfteten felsigen Küstenlandschaften unverbaut. Mit den Jahren tauschten die griechischen Fischer ihre Netze gegen Dynamitstangen, die Häuser an den Küstenstreifen vermehrten sich, märchenhaft idyllische Orte fielen dem Straßenbau und der Errichtung von Hotelanlagen zum Opfer. Sie existieren lediglich in meiner Erinnerung weiter. Müll wurde zunehmend am Straßenrand entsorgt, oder einfach über die nächste Böschung geworfen. An den Stränden spülten die Wellen immer häufiger Rohölklumpen ans Ufer und waren wir mit dem Boot draußen, fanden wir uns manchmal mitten in einem großen, auf dem Wasser treibenden Schmutzteppich wieder. Die unverbrauchte und unberührte Natur, die uns unsere Eltern zeigen wollten, befand sich bereits im Schwinden.
Mein Vater ist ebenfalls Künstler, so wie auch sein Vater bereits Maler war (Anton Christian und Toni Kirchmayr). Eines Tages, im Jahr 1985, bat er mich darum, auf eines seiner Bilder Vögel zu malen. Ich war damals 10 Jahre alt. Ich erinnere mich mich noch genau daran, wie zögerlich ich zunächst war, später dann so stolz darauf, gemeinsam mit meinem Vater ein Bild gemalt zu haben (es entstand das Bild „Staunen über Vögel“, 1985).
Inzwischen habe ich selbst zwei Söhne und obwohl wir mitten in der Stadt leben, versuche ich ihnen einen behutsamen Umgang mit der Tier und Pflanzenwelt aufzuzeigen. Auf unseren Streifzügen durch die Natur finden wir immer wieder achtlos Weggeworfenes, Zurückgebliebenes. Oft ist es Plastikmüll, den wir mitnehmen, doch sind diese Fundstücke aus Metal, behalte ich sie auf. Diese Objekte – Stahlseile, Haken, Gießkannen, Wasch- tröge, Kochtöpfe – haben teilweise bemerkenswerte Inhalte, sie erzählen so eigene Geschichten und finden nun Einzug in meinen Arbeitsprozess.
Als ich mitten in der Arbeit an „Die Landschaften die wir durchstreift haben, tragen wir immer mit uns“ war, fragten mich meine Kinder, ob sie auch auf das große Bild zeichnen dürfen und ich ließ sie. Sie zeichneten Tiere – und so schließt sich ein Kreis, mit einer Zeitspanne von 35 Jahren.
Text: Jakob Kirchmayr